„Wir hatten alle Tränen und Wasser unter der Schutzbrille“
Heimleiter Stefan Hupf und Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner berichten über schlimme, prägende Corona-Tage im BRK-Pflegezentrum in Furth im Wald. „Das sind die Besten der Welt – für mich sind das Helden! Kein anderer hätte das so gemacht“, sagt der Einrichtungsleiter über seine Kollegen - und bricht eine Lanze für den Pflegeberuf.
Von Frank Betthausen
Furth im Wald. Stefan Hupf hat viel erlebt als Heimleiter. Aber Corona? Das war anders als alles zuvor. „Du gehst raus aus deiner normalen Welt – und steigst ein in eine andere“, sagt er. Er hält kurz inne und blickt hinüber zu seiner Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner. Sie nickt. Hupf nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, schüttelt ungläubig den Kopf und meint: „Wie ein Tunnel ist das. Ja, du gehst in einen Tunnel – und der scheint nicht zu enden.“
Am 2. Dezember 2020, einem Mittwoch, schlich sich das Virus – den monatelangen Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz – in das BRK-Pflegezentrum in der Dr.-Adam-Voll-Straße. „Es ist mit Sicherheit von draußen reingetragen worden“, meint Hupf, der das Haus seit 2009 führt. Was folgte, war eine Zeit, über die Elisabeth Nachreiner rückblickend sagt: „Ich war in einer Daueranspannung und nicht mehr in der Lage, meine Spannung zu regulieren. Ich habe Tage gebraucht, um mich wieder wahrzunehmen.“
"Das habe ich noch nie erlebt"
Seit 35 Jahren arbeitet sie in der Pflege, seit zehn Jahren befasst sie sich mit Kinästhetik, der Lehre von der Bewegungsempfindung. Aber etwas wie das, etwas wie dieses Infektionsgeschehen, habe sie noch nie erlebt.
Die Angst, sich selbst anzustecken, miterleben zu müssen, wie sich der Erreger unaufhaltsam und heimtückisch ausbreitete, das ließ sie starr werden. Sie fand keine Balance mehr – „nichts, woran man festhalten konnte“. Eigentlich unglaublich: Wirklich zurück zu sich, so beschreibt es die 57-Jährige, fand sie erst wieder, als sie sich am 24. Dezember tatsächlich infizierte. Erst danach konnte sie „die Perspektive wechseln und sich mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen“.
Stefan Hupf erwischte es vermutlich am 14. Dezember, als er auf einem bis dahin nicht betroffenen Wohnbereich Erste Hilfe leistete. Beide, der 45-Jährige und seine Pflegedienstleiterin, hatten Glück: Die Krankheit nahm bei ihnen einen relativ milden Verlauf.
„Leider“, das wissen die beiden heute nur zu gut, galt das längst nicht für alle Betroffenen. 47 Bewohner und 31 Mitarbeiter steckten sich in Furth im Wald mit dem Virus an, 14 Senioren starben an oder mit Corona.
Menschliche Tragödien
Es waren menschliche Tragödien, die Nachreiner, Hupf und ihren Kollegen alles abverlangten und ihnen jeden Tag nahegingen. Dazu die Ausfälle im Team, die Verzweiflung, das Gefühl persönlicher Hilflosigkeit und die Erschöpfung! Bewohner, die glaubten, sie hätten Astronauten vor sich… Dabei waren es Pfleger mit Ganzkörperschutzanzügen und Brillen.
„Wir hatten so viel Mut. Aber dann zu sehen, wie es den Menschen, die am Anfang keine Symptome hatten, immer schlechter und schlechter ging, das war das Schlimmste“, sagt Hupf, der einem älteren Herrn in den letzten Lebensstunden die Hand hielt. „Lassen Sie mich bitte hier! Ich möchte hier sterben“, sagte der Mann immer wieder. „Wir hatten alle Tränen und Wasser unter der Schutzbrille“, erinnert sich Hupf.
Doch Corona brachte dem Haus in Furth im Wald und den Menschen, die dort ein und aus gehen, nicht nur gespenstische Stille und Augenblicke totaler Machtlosigkeit. Da war auch noch mehr. Da waren die Hilfsbereitschaft, das Miteinander und der Zusammenhalt im 100 Mitarbeiter starken Team. Da war die Unterstützung durch die BRK-Kreisgeschäftsstelle und den Kreisvorsitzenden Theo Zellner. Da waren die haupt- und ehrenamtlichen Kräfte aus den Reihen des Kreisverbands, der Bergwacht und der Bereitschaften, die als Covid-Task Force unter der Federführung von Katastrophenschutzleiter Tobias Muhr bei den regelmäßigen Tests einsprangen.
"Das hätten wir nicht mehr geschafft"
„Das hätten wir selber gar nicht mehr geschafft“, sagt Stefan Hupf. Und Elisabeth Nachreiner berichtet: „Jeden Tag war ein anderer Kollege da mit einem Leuchten in den Augen und einer Idee, wie man die nächste schwere Situation meistern kann.“ Das habe auch sie darin bestärkt, durchzuhalten. Immer wieder sei ein Mitarbeiter eingesprungen, der die Kraft gehabt habe, andere Kollegen zu motivieren, die gerade einen Durchhänger gehabt hätten.
Was die 57-Jährige und Stefan Hupf heute spüren – das sind der Stolz, es gemeinsam mit der Mannschaft geschafft zu haben, Aufbruchsstimmung und das Gefühl, dass in der schwer gebeutelten Einrichtung, die seit Ende Dezember als coronafrei gilt, neues Leben einkehrt. Natürlich: Viele ihrer Mitarbeiter, das merkt Nachreiner, müssen sich erst wieder finden, vieles erst verarbeiten und in Gesprächen untereinander aufarbeiten. Aber: Der Alltag kehrt zurück in der Dr.-Adam-Voll-Straße, es geht weiter – und die Freude an einem Beruf ist wieder da, der in den Augen von Hupf durch die Pandemie endlich den Stellenwert in der öffentlichen Wahrnehmung bekommen hat, den er verdient.
Er hat größte Hochachtung
Seine Hochachtung vor dem, was seine Beschäftigten seit dem 2. Dezember vollbracht haben, vor dem, was Pflege in Corona-Zeiten generell leistet, ist riesig. „Das sind die Besten der Welt – für mich sind das Helden! Kein anderer hätte das so gemacht“, wird der 45-Jährige, der einst Bürokaufmann gelernt hatte, fast feierlich, als er über seine Belegschaft berichtet; über die zwiespältigen Gefühle, mit denen seine Mitarbeiter und er phasenweise zum Dienst gekommen sind. „Du möchtest helfen, aber du weißt: Wenn du da reingehst, setzt du dich auch einem Restrisiko aus. Du willst es ja nicht mit nach Hause nehmen“, beschreibt es der Grafenwiesener.
Pflege – das sei Berufung, sagt er. Und absolut sinnstiftend! In der Pandemie – das Zeitfenster ist nicht allzu groß, dessen ist er sich bewusst – liegt für ihn die Chance, den Beruf zu stärken und auch den Beschäftigten bewusst zu machen, wie bedeutsam ihre Arbeit für die Gesellschaft ist. „Die ganze Welt merkt im Moment, wie wichtig Pflege ist“, meint der Einrichtungsleiter, der es bei all dem immer wieder bedauert, wie wenig die Beschäftigten selbst darauf vertrauen wollen, welchen Stellenwert ihre Tätigkeit hat. „Die Pflege redet sich manchmal selber schlecht und der Beruf ist viel zu negativ behaftet. Daran sollten wir arbeiten“, meint der BRK-Mitarbeiter. Oft mache ihn das regelrecht betroffen, wenn er spüre, dass einige Kollegen ihre Leistungen gar nicht als „so toll“ empfänden. „Weil sie so gute Arbeit leisten!“, betont Hupf.
Die Bescheidenheit der Kollegen
Für Elisabeth Nachreiner, gelernte Krankenschwester und seit 2008 beim Bayerischen Roten Kreuz, liegt viel in der Bescheidenheit ihrer Kollegen und darin begründet, dass ihr Berufsstand einfach macht, ohne lang zu fragen oder es an die große Glocke zu hängen. „Eine Pflegerin oder ein Pfleger, der das mit Leib und Seele lebt, für den ist das selbstverständlich, was er tut“, sagt sie. Und Stefan Hupf bestätigt, dass das wohl der Kern sei und den Beruf ausmache – allem etwas Positives abzugewinnen, es aber nie in der Öffentlichkeit herauszuschreien.
Völlig selbstverständlich war für den Heimleiter und die Pflegedienstleiterin auch der mitfühlende, offene Umgang mit den Familien während des Ausbruchsgeschehens. Keine Geheimniskrämerei, so lautete ihre Devise. „Wir haben versucht, jeden Angehörigen der 47 positiv getesteten Bewohner persönlich zu informieren und zum Teil auch auf das Schlimmste vorzubereiten. Und so lang das Gespräch gedauert hat – so lang hat es gedauert“, erzählt Hupf. Überhaupt war es ihm während der gesamten Pandemiezeit wichtig, den Bewohnern und ihren Angehörigen – soweit es die allgemeinen Regeln erlaubt haben – „die größtmögliche Freiheit zu garantieren“.
Verständnis bei den Familien
Die Strategie und der persönliche Umgang scheinen aufgegangen zu sein. Trotz der Todesfälle im Heim stießen der 45-Jährige und seine Pflegedienstleiterin nach eigenen Angaben auf viel Verständnis bei den betroffenen Familien. „Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, sagt Elisabeth Nachreiner. „Wenn uns Fehler passiert sind, müssen wir dazu stehen.“
Diesmal nickt Stefan Hupf zustimmend. Als alles überstanden war, wollte er mit dem Ende der behördlichen Auflagen bald bewusst ein Zeichen für den Aufbruch setzen. Auch nach außen! Der 45-Jährige reagierte auf die Vielzahl an Anfragen, die seine Einrichtung trotz des Corona-Ausbruchs bereits wieder erhalten hatte – und begann damit, die verwaisten Betten und Zimmer neu zu belegen. Corona, das so viel Leid nach Furth gebracht hatte, sollte und durfte nicht der Gewinner sein. „Das Leben muss der Sieger sein und weitergehen“, sagte sich Hupf. Der lange Tunnel hatte doch einen Ausgang…
Gut zu wissen:
Kinästhetik: Die Wissenschaft Kinästhetik, ein Steckenpferd der Further BRK-Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner, erforscht die individuelle Bewegungskompetenz als eine der wichtigsten Grundlagen des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Entwicklung.
Bewegung: Im Zentrum stehen dabei die Qualität der Bewegung in den alltäglichen Aktivitäten und die Kompetenz, „diese situativ und gesundheitsfördernd an die alltäglichen Herausforderungen anzupassen“, wie Nachreiner erläutert.