Die Folgen, die Corona für die Pflege hatte, waren heftig. Doch die Pandemie kann auch eine Riesenchance zur Weiterentwicklung sein: Davon sind Chams BRK-Kreisgeschäftsführer Manfred Aschenbrenner und Professor Dr. Stephan Gronwald von der Technischen Hochschule Deggendorf überzeugt. Bei einer Fachmesse in Essen stellten sie eine neue Ausbildung vor, die im September in Niederbayern starten wird. Sie baut auf den Erfahrungen der harten Corona-Monate auf, soll das Pflegepersonal entlasten und die Branche einen Riesenschritt voranbringen. Gronwalds leidenschaftlicher Appell lautet: "Hört auf die Pflegenden!"
Von Frank Betthausen
Cham. Corona hat in der Pflegebranche vieles auf den Kopf gestellt und den Druck auf die Beschäftigten noch einmal massiv erhöht – genauso wie auf die Heimträger, Organisationen und Wohlfahrtsverbände. Doch die Pandemie, davon sind Chams BRK-Kreisgeschäftsführer Manfred Aschenbrenner und Professor Dr. Stephan Gronwald von der Technischen Hochschule (TH) Deggendorf überzeugt, kann auch eine Riesenchance zur Weiterentwicklung sein. Für die gesamte Branche genauso wie für jede einzelne Arbeitskraft!
„Eine Pandemie war nie ein Szenario."
BRK-Kreisgeschäftsführer Manfred Aschenbrenner
Immer vorausgesetzt, die Arbeitgeber nehmen ihre Verantwortung ernst, ziehen mutige Lehren aus den vergangenen zwei Jahren und spielen ihre Trumpfkarte „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ (BGM) aus.
Das BRK in Cham war 2019 für sein mit der TH Deggendorf entwickeltes BGM-Konzept in der Pflege mit dem Bayerischen Präventionspreis ausgezeichnet worden. Aschenbrenner und Gronwald wollen nach harten Corona-Monaten darauf aufbauen. Am Ende soll so ein neues Berufsbild entstehen, das der Pflege einen gehörigen Schub geben soll. Auch und gerade, indem es das Personal in den Einrichtungen von berufsfremden Tätigkeiten entlastet…
Der „Prozessberater für Betriebliches Gesundheitsmanagement“, den Aschenbrenner über Pflegeschlüssel dauerhaft im Gesundheitswesen verankert sehen möchte, wäre – wie etwa Gerontofachkräfte oder Praxisanleiter – eine eigenständige Fachqualifikation in der Pflege. Die Finanzierung der Ausbildung über die Krankenkasse BKK ProVita steht. Zum Herbst soll sie in Deggendorf starten.
Schon bisher hatten Absolventen die Möglichkeit, in der niederbayerischen Stadt das Hochschulzertifikat als „Systemischer Prozessberater für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ zu erlangen – aktuell wird es überarbeitet und über moderne Unterrichtsformate auf die Situation in der Pflege zugeschnitten. „Wir werden zwischen 15 und 20 Personen in die Ausbildung bringen“, sagt Stephan Gronwald.
Bei der Fachmesse Altenpflege 2022 in Essen stellte der Arbeits- und Sozialwissenschaftler, der an der TH Deggendorf das Lehr- und Forschungsgebiet Betriebliches Gesundheitsmanagement und Arbeitssicherheit leitet, die Pläne zusammen mit Manfred Aschenbrenner an einem Vortragsnachmittag zum Themenkomplex „Resilienz in der Langzeitpflege“ erstmals der Öffentlichkeit vor.
Sämtliche Überlegungen, das verdeutlichte der Kreisgeschäftsführer aus Cham bei seiner Gastrede im Ruhrgebiet, knüpfen an die Erfahrungen aus zwei Jahren Pandemie an.
„Es ist brutal viel Fremdarbeit bei den Pflegekräften abgelagert worden seit März 2020“, sagte er. Ein Prozessberater, wie er in Deggendorf ausgebildet werde, gab er sich überzeugt, könne „unglaublich Druck“ von der Basis nehmen.
Das neue Berufsbild, das es nach seiner Auffassung als Stabsstelle in den Häusern und Betrieben zu installieren gilt, umfasst für ihn den Umgang mit der persönlichen Schutzausrüstung während eines größeren Ausbruchsgeschehens genauso wie die Auseinandersetzung mit Long-Covid. Dazu kämen Pandemiepläne, Test- sowie Impfkonzepte oder die architektonische Planung künftiger Pflegeheime.
„Eine Pandemie war nie ein Szenario“, umriss der BRK-Vertreter die Ausgangslage für die meisten Heimbetreiber. „Plötzlich waren Zugangs- und Sicherheitsschleusen nötig. Auf einmal standen da jede Menge Fragen: Wie geht das? Wie sind die Versorgungswege, wie die Mitarbeiter-, Patienten- und Besucherströme? Wie steuere ich sie?“, blendete er in die Anfangszeit der Corona-Krise zurück.
"Ein permanentes Bindeglied"
Auch die Themen Doppelzimmer, Be- und Entlüftung oder Aufzüge hätten eine ganz neue Betrachtung gebraucht, als es darum gegangen sei, Infektionsketten zu durchbrechen.
„Ob das in Zukunft eine Person in einem 100-Betten-Haus ist oder eine Fachkraft für 200 Betten, die sich um diese Aufgabenstellungen kümmert – das sei einmal dahingestellt“, sagte Aschenbrenner. Viel wichtiger sei, dass die Tätigkeit „im Sinne des BGM sowie im Sinne von Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz“ umgesetzt werde.
Den neuen Prozessberater sieht er vor diesem Hintergrund, wie er betonte, „als permanentes Bindeglied zu den Mitarbeitern und zur Geschäftsführung – und als Beschäftigten, der hineinhört in die Belegschaft“.
Alle Einrichtungen, meinte Aschenbrenner, hätten seit 2020 – unabhängig vom Träger – Gigantisches geleistet. Aus diesen Erfahrungswerten heraus könnten mutige Lösungswege für die Branche aufgezeigt werden. „Mit diesem Pandemiewissen können wir die Politik und die Kostenträger konfrontieren, um unsere Zukunft besser zu gestalten“, gab sich der BRK-Kreisgeschäftsführer vor dem Fachpublikum selbstbewusst.
„Mit diesem Pandemiewissen können wir die Politik und die Kostenträger konfrontieren, um unsere Zukunft besser zu gestalten.“
BRK-Kreisgeschäftsführer Manfred Aschenbrenner
Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit sah er in diesem Zusammenhang nicht als Schreckgespenst, „sondern als ein geniales Instrument zur Personal- und Organisationsentwicklung“.
Dringend wegkommen müsse die Gesellschaft von den permanenten Negativ-Diskussionen zur Pflege. „Das glauben die Mitarbeiter irgendwann selbst. Wir müssen diesen Beruf positiv diskutieren. Er gibt bei weitem mehr her“, betonte er.
Stephan Gronwald hieb in die gleiche Kerbe und forderte: „Wir müssen lernen, die Pflege zu verstehen. Wir müssen begreifen, wie Mitarbeiter in der Pflege ticken.“ Das sei für ihn die zentrale Botschaft – damit es nicht immer nur bei einem Hilfeschrei bleibe, sondern zu Veränderungen komme. Generell werde viel zu sehr über die Pflege gesprochen als mit ihr.
"Es braucht das Management"
„Wenn Sie einmal richtig hinschauen und die Charakterstärken dieser Menschen erkennen würden, würden sie ganz andere Systeme aufbauen“, war sich der Professor sicher. Nicht zuletzt mit Blick auf das Thema Arbeitsorganisation… In 80 Prozent der Fälle wüssten es die Pflegenden besser zu organisieren, als es tatsächlich organisiert sei, meinte er.
In Sachen BGM, verdeutlichte er, brauche es die Geschäftsführung und das Management. „Viele Fehler sind hausgemacht“, urteilte Gronwald und zielte insbesondere auf das Miteinander im Arbeitsalltag ab. Ein echter Super-GAU? Gratifikationskrisen! „Das Gefühl, meine Leistung wird nicht anerkannt – auch finanziell nicht“, wie es der Experte umschrieb.
Thomas Schade, Referent für Personalentwicklung beim Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin, der die Pläne aus Cham und Deggendorf als „ein Vorzeigeprojekt im allerbesten und -wichtigsten Sinn des Wortes“ bezeichnete, schilderte in seinem Eingangsstatement ein persönliches Beispiel für diese Art von Missmanagement.
Seine Schwester war zum 1. April wie fünf ihrer Bekannten, die mit 17 ins Berufsleben gestartet waren, 40 Jahre in einem ehemaligen Kreiskrankenhaus tätig, das heute zu einem Konzern gehöre. „Und was passiert nicht?“, fragte Schade in die Runde. „Es gab keinen Blumenstrauß!“ Noch nicht einmal die tariflich vorgeschriebene Leistung sei bezahlt worden. „So macht man es nicht, wenn man Mitarbeiter halten will“, betonte er und schob nach: „Wenn man das so angeht, kann es passieren, dass sich die Mitarbeiter-Resilienz gegen den eigenen Arbeitgeber wendet.“
„Viele Fehler sind hausgemacht.“
Professor Dr. Stephan Gronwald
Stephan Gronwald wusste er an dieser Stelle voll an seiner Seite. „Wir müssen insgesamt auf einer Wertebasis arbeiten“, forderte er bei seinem Vortrag in Essen. „Und, bitte, lassen Sie uns nicht irgendwelche künstlichen Werte aufbauen, sondern auf dem Wert Mensch als biopsychosoziales Modell. Wir haben doch alles an Werkzeugen und Methoden – wir müssen es nur zusammenführen.“
Ohne "zusammengezimmerte Fragebögen"
Das Eingangstor dorthin, betonte er ein weiteres Mal, seien die Geschäftsführer, die verantwortlich seien für die menschengerechte Gestaltung der Arbeit. „Lasst die Leute laufen – räumt ihnen den Weg frei! Um die Liebe zum Beruf geht es nicht. Mitarbeiter haben andere Sorgen“, verdeutlichte er und trat energisch dafür ein, Gefährdungsbeurteilungen in Betrieben stets „auf wissenschaftlich valider Basis umzusetzen – und nicht mit selbst zusammengezimmerten Fragebögen“.
„Die meisten chronischen Erkrankungen erkennst du sieben bis zehn Jahre vorher, wenn du Screening-Verfahren einsetzt. Warum nutzen wir das nicht?“, warf Gronwald eine weitere Frage in den Raum. Stattdessen werde in Unternehmen auf Spät-Indikatoren reagiert. Controller bemängelten Fluktuation und Krankheitstage.
„Dabei könnten wir das alles viel früher sehen“, bekräftigte er und appellierte an die Verantwortlichen, in Systemen zu denken und sie nachhaltig zu nutzen – und das unabhängig von Corona. Es gehe immer darum, die Herausforderungen zu sehen.
Wie Manfred Aschenbrenner plädierte er dafür, den Prozessberater für Betriebliches Gesundheitsmanagement in den Betrieben und bei den Trägern als Stabsstelle anzusiedeln. „Das Thema muss ganz, ganz oben sein. Wir brauchen jemanden, der für Vernetzung sorgt und das koordinieren kann. Das kannst du nicht mehr so nebenbei als Personalverantwortlicher machen“, erklärte er und ging mit einer klaren Forderung an die Politik noch einen Schritt weiter: Eine Fachkraft für systemische Gesundheit brauche es streng genommen in jedem Unternehmen.
„Wir brauchen jemanden, der für Vernetzung sorgt und das koordinieren kann. Das kannst du nicht mehr so nebenbei als Personalverantwortlicher machen.“
Professor Dr. Stephan Gronwald
Thomas Schade trat ebenfalls dafür ein, sich dem Gesundheitsschutz der Mitarbeiter „wirklich ernsthaft zu widmen – und nicht nur dem Arbeitsschutz und Prävention im Allgemeinen“. Als großen Vorteil wertete er es, dass „die Phase der Reflexion der Pandemie“ noch nicht abgeschlossen sei.
„Wir werden uns noch eine ganze Menge kritisch fragen müssen“, meinte er. Seine abschließende Prognose lautete: „Wie wir als Pflegesystem durchhalten können, das hängt auch davon ab, wie stark unsere Beschäftigten sind.“
Ulrike Pernack, stellvertretende Leiterin der Abteilung Gesundheit beim Verband der Ersatzkassen (vdek) aus Berlin, skizzierte unter der Überschrift „Mehrwert Pflege“, welche Programme und Unterstützungsmöglichkeiten es beim Auf- oder Ausbau eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements über ihr Haus gebe. Dabei warb sie für Mut und Entschlossenheit.
In der Praxis gebe es kein Lernen und keine Veränderung ohne Widerstand, erklärte sie. „Wenn wir über Organisationsentwicklung sprechen, sprechen wir auch über die Themen, die wehtun, die sich komisch anfühlen und die auch eine gewisse Offenheit verlangen, zu reflektieren und zu hören, was gut und was weniger gut läuft in Einrichtungen“, sagte Pernack.
Joachim Görtz, Leiter der bpa-Landesgeschäftsstelle Bayern in München, zeigte auf, dass der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste schon früh mit dem Thema „Betriebliche Gesundheitsförderung“ in Verbindung gekommen sei.
Wie Manfred Aschenbrenner kritisierte er die ständige Orientierung an Negativbeispielen, über die der Mensch die Welt bewerte. Am Ende entstehe so der Eindruck, eine Tätigkeit in der Pflege sei die Höchststrafe. Natürlich gebe es Arbeitsbedingungen, die verbessert werden müssten. Doch wenn er mit Pflegekräften spreche, stehe für ihn immer die Botschaft: „Für die ist das ein Traumjob.“
Hinweis: Wer sich für die im Herbst startende Ausbildung zum "Prozessberater für Betriebliches Gesundheitsmanagement" an der Technischen Hochschule Deggendorf interessiert, kann sich per Mail unter der Adresse stephan.gronwald(at)th-deg(dot)de an den Leiter des Lehr- und Forschungsgebiets Betriebliches Gesundheitsmanagement und Arbeitssicherheit wenden.