Sie ging an ihre Grenzen – für einen völlig neuen Blick auf sich und den Job
Tina Nachreiner ist seit Herbst Kinaesthetics-Trainerin im BRK-Pflegezentrum Furth im Wald. Die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst hat alles verändert – ihr Berufs- genauso wie ihr Privatleben. „Es ist alles menschlicher geworden“, sagt die 38-Jährige. Auch ihre Kolleginnen Natalie Simeth und Marina Bösl haben sehr persönliche Erfahrungen mit der Kinästhetik, der Lehre von der Bewegungsempfindung, gemacht. Die jahrelange Arbeit damit hat der Einrichtung in der Drachenstich-Stadt deutschlandweit einen hervorragenden Ruf eingebracht. „Liebevoll zu sein, das allein reicht nicht aus“, sagt Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner. „Wir brauchen Professionalität – durch den Zuwachs an Kompetenz in allen Bereichen.“ Genau an dieser Stelle setze das Kinaesthetics-Konzept an.
Von Frank Betthausen
Furth im Wald. Die Ausbildung zur Kinaesthetics-Trainerin hat Tina Nachreiners Leben verändert – beruflich und privat. Ihr Blick auf den Job als Pflegefachkraft und ihr Umfeld ist heute ein völlig neuer – genauso wie ihr Umgang mit Kollegen, Bewohnern, Freunden oder Familienmitgliedern. „Es ist alles menschlicher geworden. Individueller! Die Möglichkeiten sind andere geworden“, sagt die 38-Jährige, die seit 2018 im BRK-Pflegezentrum in Furth im Wald arbeitet. Dort kam sie mit dem Thema in Berührung, das in der Einrichtung mittlerweile im zwölften Jahr über ein durchdachtes Konzept und klare Ziele leidenschaftlich weitergetragen wird: Kinästhetik, die Lehre von der Bewegungsempfindung.
„Die Entwicklung zu sehen, zu erleben, was man an sich selber erreichen kann, das macht für mich den Reiz aus.“ Marina Bösl, Kinaesthetics-Trainerin
Unter Federführung von Pflegedienstleiterin Elisabeth Nachreiner hat sich das Haus in der Drachenstich-Stadt als bundesweit anerkanntes Kinaesthetics-Kompetenzzentrum etabliert. Wer dort arbeitet – egal, ob er in der Pflege, in der Hauswirtschaft oder in der Küche tätig ist –, kommt an den mit Begeisterung und Konsequenz gelebten Überzeugungen nicht vorbei. „Pflege hat nicht diese negativen Seiten, von denen so oft gesprochen und geschrieben wird. Das ist ein hochattraktiver Beruf mit so vielen Entwicklungsmöglichkeiten“, sagt Heimleiter Stefan Hupf.
Und eine ganz Wesentliche liegt für ihn in Kinaesthetics.
Was sich dahinter verbirgt? Kurz gesagt, geht es darum, sich und die eigenen Bewegungen bewusst wahrzunehmen – und all diese Erfahrungen im Team- oder Pflege-Alltag auf ein Miteinander zu übertragen. Kinästhetik als Handlungskonzept unterstützt zum Beispiel auf schonende Weise – ohne Heben und Tragen – die Mobilisation. Sie fördert die Selbstständigkeit und die Lebensqualität von Mitarbeitern und Bewohnern – auch die von schwer pflegebedürftigen Personen.
„Ein Patient oder Heimbewohner, der die Bewegung mitfühlt, erleichtert nicht nur dem Pflegenden die Arbeit, er hilft auch sich selbst. Damit wird Bewegung plötzlich zur Interaktion und zur Kommunikation“, hatte BRK-Kreisvorsitzender Theo Zellner die Grundgedanken vor einigen Wochen treffend erklärt. Bei einem Fachtag in den Räumen des BRK hatten frischgebackene Trainer wie Tina Nachreiner damals ihre Zertifikate erhalten.
Die Furtherin beschreibt das Phänomen mit dem Wort Rücksichtnahme. Rücksichtnahme, die auf eine besondere Weise alte Strukturen aufbreche und mit Kinaesthetics immer mehr wachse. „Und sie geht weiter zum nächsten“, schildert sie ihre Erfahrungen. Ein einfaches Beispiel, das ihr in den Sinn kommt, ist der Bewohner, der morgens plötzlich liegenbleiben darf, statt mit aller Macht geweckt zu werden, weil es seinen Gewohnheiten entspricht, länger zu schlafen.
Individualität! Sie ist für Elisabeth Nachreiner eines der Zauberwörter. „Man muss jeden dort abholen, wo er steht“, sagt sie – und bezieht diese Aussage auf die Pflegebedürftigen genauso wie auf ihre Kollegen und die Kinaesthetics-Trainer in Furth im Wald, deren Arbeit ihr ein Herzensanliegen ist. „Das ist eine hochqualifizierte, intensive Ausbildung“, betont sie. Gerade die erste der drei möglichen Trainer-Stufen zu erreichen, sei eine sehr intensive Auseinandersetzung mit sich selbst.
Sich hinterfragen und immer wieder reflektieren: Tina Nachreiner, die früher als Fleischerei-Fachverkäuferin gearbeitet und 2017 über den Quereinstieg den Pflegeberuf für sich entdeckt hatte, brachte das an ihre Grenzen, wie sie zugibt. Allerdings war es nicht die Angst, dass sie die erwarteten Leistungen nicht erbringen könnte, sondern „mehr die psychische Auseinandersetzung mit dem Job“, die sie forderte.
Die 38-Jährige meisterte diese Aufgabe – und darf als Trainerin der Stufe 1 mittlerweile selbst Workshops im Haus anbieten oder Kollegen in der Praxis begleiten.
„Wir finden Lösungen in der Auseinandersetzung im Team.“ Elisabeth Nachreiner, Pflegedienstleiterin und Kinaesthetics-Trainerin
So wie Marina Bösl, die mit ihren 23 Jahren seit dem Fachtag im Spätherbst „als jüngste Kinaesthetics-Trainerin aller Zeiten in Deutschland“ gilt, wie Stefan Hupf betont. Dabei war die Fach- und Palliativkraft zu Beginn durchaus irritiert. „Was wird das?“ und „Was macht die da?“: Das waren Fragen, die ihr durch den Kopf geisterten, als Elisabeth Nachreiner sie wenige Wochen nach Beginn ihrer Ausbildung 2015 in den ersten Grundkurs steckte und sie dort die ersten Beobachtungen machte.
Heute ist die junge Frau begeistert davon, wie Kinaesthetics ihre innere Haltung, ihre Herangehensweise an die Arbeit mit Menschen und ihre Einstellung zum Beruf verändert hat – und welch positiven Einfluss all das auf ihre Gesundheit hatte. „Die Entwicklung zu sehen, zu erleben, was man an sich selber erreichen kann, das macht für mich den Reiz aus“, sagt sie.
All das führe zu einer neuen Pflege-Qualität, die sich auf alle Beteiligten auswirke. „Probleme gibt es nicht in Kinaesthetics. Es geht um Lösungen“, sagt die 23-jährige Furtherin und nimmt Elisabeth Nachreiner die Worte aus dem Mund. Pflege, betont die Inhaberin der dritten und höchsten Trainerstufe, sei nie das Problem. Pflege sei ein Teil der Lösung. Es gehe darum, Herausforderungen in der Pflege anzunehmen. Kinaesthetics sei ein Instrument, das nicht nur helfe, Lösungen zu finden, sondern auch Entwicklung zu ermöglichen.
„Liebevoll zu sein, das allein reicht nicht aus“, sagt sie. „Wir brauchen Professionalität – durch den Zuwachs an Kompetenz in allen Bereichen.“ Und genau an dieser Stelle setzen die Trainer-Ausbildung und die Workshops in der Drachenstich-Stadt an. Das Kinaesthetics-Konzept führe zu Professionalität in der Pflege und Betreuung und befähige Mitarbeiter dazu, mit allen Herausforderungen umzugehen. „Wir finden Lösungen in der Auseinandersetzung im Team“, gibt Nachreiner einen Einblick in die Further Team-Philosophie.
Die fußt vor allem auf Verbundenheit. Und darauf, dass keiner mehr wert ist als der andere. „Von der Hauswirtschafts- bis zur Betreuungskraft: Wir begegnen uns auf Augenhöhe“, sagt Nachreiner, für die es noch nie eine Rolle gespielt hat, ob eine gute Idee im Arbeitsalltag von einer Führungskraft oder einer Pflegehelferin kam.
Dabei hatte die Pflegedienstleiterin immer einen Blick für Talente und Beschäftigte mit großen Kinaesthetics-Potenzialen. Neben Tina Nachreiner und Marina Bösl „spähte“ sie mit Natalie Simeth in Furth im Wald eine weitere Trainerin „aus“. Die 28-jährige Gerontofachkraft, die 2011 ihre Ausbildung beim BRK in Furth begonnen hatte, erarbeitete sich 2020 die Stufe zwei und darf damit unter anderem Grundkurse leiten.
Auch sie war anfangs skeptisch, als Nachreiner ihr – die junge Frau aus Weiding hatte gerade ausgelernt – den Weg zur Trainerin ans Herz legte.
„Ich hätte mich niemals so entwickeln können, wenn ich die Kinaesthetics-Ausbildung nicht gemacht hätte – auch in punkto Selbstbewusstsein.“ Natalie Simeth, Kinaesthetics-Trainerin
„Ich habe mir ein halbes Jahr Zeit gelassen für die Entscheidung“, erzählt Simeth, die vergangenes Jahr ihre Ausbildung zur Pflegedienstleiterin abgeschlossen hatte und in der Einrichtung in der Dr.-Adam-Voll-Straße die Wohnbereiche 1 und 2 leitet.
Der Reifeprozess, den sie durchlief, war es in der Rückschau absolut wert. „Ich hätte mich niemals so entwickeln können, wenn ich die Kinaesthetics-Ausbildung nicht gemacht hätte – auch in punkto Selbstbewusstsein“, sagt sie. Als „Küken“ vor eine große Gruppe an Menschen zu treten und zu sprechen, das hätte sie sich früher in dieser Form nicht zugetraut…
Heimleiter Stefan Hupf ist „sehr, sehr stolz“ auf seine Mitarbeiter und die Entwicklung, die sein Haus in den vergangenen Jahren genommen hat. „Wir haben sehr viel getan, um die Einrichtung in die Zukunft zu führen“, sagt er. Was sich die Kollegen in Furth im Wald mit Kinaesthetics aufgebaut hätten, sei etwas Einzigartiges, lobt er das Ausbilder-Team, dem neben Elisabeth und Tina Nachreiner, Marina Bösl sowie Natalie Simeth bis zu ihrem Wechsel in den Ruhestand Ende 2022 mit Monika Ehrnböck eine weitere Trainerin angehört hatte.
Bleibt die Frage, warum landauf, landab nicht längst mehr Träger mit dem Kinaesthetics-Konzept arbeiten…
„Weil es einfacher ist, einen Hebelifter zu kaufen“, sagt Elisabeth Nachreiner und verweist darauf, dass es Zeit und Arbeit kostet, Mitarbeiter im großen Stil zu befähigen, nach der besonderen Philosophie zu arbeiten und zu leben. „Denn: Ich muss bei all dem immer mein Verhalten und mich selbst hinterfragen“, sagt die Pflegedienstleiterin. „Viele wollen halt einfach ihre Wohlfühlzone nicht verlassen und so weitermachen wie bisher.“
Dabei bietet Kinaesthetics jedem die Chance, sein Leben zu verändern. Tina Nachreiner kann ein Lied davon singen…