„Das ist ein gigantisches Projekt, eine Herkulesaufgabe!“

Kinaesthetics macht beim BRK Cham Schule. Die Erfahrungswissenschaft basiert auf der Wahrnehmung der eigenen Bewegung und wird gerade in der Pflege besonders geschätzt, weil sie nicht nur die eigene Gesundheit fördert, sondern auch viele positive Effekte auf die Entwicklung der betreuten Personen hat. Im BRK-Pflegeheim in Bad Kötzting fand Ende September der erste einrichtungsübergreifende Kinaesthetics-Grundkurs beim BRK-Kreisverband statt. Warum das Seminar bei Heimleiter Stefan Hupf für Gänsehaut-Momente sorgte und weshalb er in „seinen“ Häusern seit 13 Jahren überzeugt auf das Konzept setzt, erzählt er in einem Interview mit BRK-Pressesprecher Frank Betthausen.

Von Frank Betthausen

Stefan, wie kam es dazu, dass Ihr die Kinaesthetics-Schulungen auf den Kreisverband ausgeweitet habt?

Stefan Hupf: Ursprünglich haben wir das Projekt 2011 in Furth im Wald gestartet. Unser dortiges Haus, das ich neben dem Heim in Bad Kötzting ja auch leite, hat sich seitdem bis hin zum Kinaesthetics-Kompetenzzentrum entwickelt. Die Idee, den Kreis der Einrichtungen zu erweitern, ist relativ spontan entstanden, als ich im April in Bad Kötzting Interimsheimleiter geworden bin.

„Ich kann immer wieder nur sagen, dass dieses Thema Kinaesthetics für uns in Furth im Wald immer etwas Positives bedeutet hat. Es war immer für die Menschen gedacht – und insbesondere für unsere Mitarbeiter.“ Heimleiter Stefan Hupf

Bei der ersten Teamsitzung haben mich Kollegen damals gefragt: Wann bekommen wir denn Kinaesthetics? Allem Anschein nach haben die Beschäftigten meinen Namen mit dem Ganzen verbunden. Ich habe den Mitarbeitern gesagt: „Ich möchte euch da nichts aufdrücken. Das ist ein Weg, den Furth gegangen ist, ihr müsst das nicht tun“. Aber die Kollegen wollten das sehr überzeugt und haben immer wieder nachgefragt. Darauf habe ich irgendwann gesagt und entschieden: „In Ordnung, dann bekommt ihr das Projekt, dann werden wir alles dafür tun, dass wir da etwas auf die Beine stellen“.

Und auf einmal waren mit Kursleiterin Elisabeth Nachreiner und ihren Trainerinnen Natalie Simeth und Tina Nachreiner drei echte Expertinnen in Bad Kötzting zu Gast, um das Kinaesthetics-Programm im größeren Stil auszurollen…

Stefan Hupf: Ja, das ist eine hocherfreuliche Entwicklung! Ich kann immer wieder nur sagen, dass dieses Thema Kinaesthetics für uns in Furth im Wald immer etwas Positives bedeutet hat. Es war immer für die Menschen gedacht – und insbesondere für unsere Mitarbeiter. Der Maurer hat eine gute Kelle für seine Arbeit, aber was ist das Handwerkszeug der Pflege? Was kann man den Kollegen an die Hand geben, damit sie sich leichter tun? Das waren Fragen, die mich immer beschäftigt haben. In meinen Augen ist Kinaesthetics dieses Werkzeug. Aus dem einfachen Grund, dass Beschäftigte über das Wissen, wie der menschliche Körper funktioniert, ein deutlich einfacheres Miteinander mit unseren Bewohnern erreichen können. Einfacher in dem Sinn, dass Pflegekräfte wegkommen vom Heben und Ziehen und versuchen, es sich und dem Gegenüber leichter zu machen, indem sie physikalische Gegebenheiten anders nutzen. Das lernen sie in diesem Grundkurs. Die Folge ist ein deutlich entspannteres Arbeiten.

Bei all dem machst Du aber schon immer deutlich mehr in dem Konzept aus, oder?

Stefan Hupf: Das stimmt! In all den Jahren hat sich für mich gezeigt, dass Kinaesthetics in besonderer Weise der Personalentwicklung dient. Ein besseres Mittel, die Leute zusammenzubringen, habe ich bisher nicht gefunden. Die Kunst bei den Schulungen besteht darin, dass es bei den Treffen nicht nur um die Arbeit geht, sondern auch und ganz besonders um die Teilnehmer.

Über die Zusammenkünfte finden positive Ereignisse statt, durch die unsere Mitarbeiter viel Kraft und Motivation in ihren Arbeitsalltag mitnehmen.

Dieses Angebot in Bad Kötzting ist für Dich auch aus persönlichen Gründen etwas ganz Besonderes…

Stefan Hupf: Für mich schließt sich damit ein Kreis, ja. Ich habe 2006 beim Roten Kreuz in Waldmünchen als Heimleiter angefangen. Bei unserem ersten landkreisweiten Grundkurs sind mit Waldmünchen, Furth im Wald und Bad Kötzting 13 Beschäftigte aus drei Einrichtungen zusammengekommen, denen ich vorgestanden habe oder die ich leite. Das bereitet mir schon Gänsehaut, wenn ich sehe, was aus diesem Thema geworden ist. Waldmünchen ist mit Heimleiter Stefan Paa und Pflegedienstleiterin Ramona Schwab gleich mit 20 Beschäftigten auf diesen Zug aufgesprungen, was mich sehr gefreut hat.

Wie siehst Du die weitere Entwicklung dieses „Kreisverbandsprojekts“?

Stefan Hupf: Nach meiner Einschätzung wird es noch lange nicht zu Ende sein. Die Kurse werden sich aufgrund der Vielzahl an Teilnehmern weit bis ins nächste, vielleicht sogar übernächste Jahr hineinziehen. Ich hoffe und wünsche mir mit Blick auf den Organisationszusammenhalt, dass hier etwas Einzigartiges entsteht, über das wir sagen können: Das BRK macht etwas, das in dieser Form sonst niemand anbietet. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal, über das wir richtig viel für die Pflege tun können – in Zeiten, in denen die Branche leider medial viel zu oft immer noch negativ behaftet ist. Und das merken die Mitarbeitenden – dass für sie etwas getan wird!

Worauf legt Ihr bei den Kursen den größten Wert?

Stefan Hupf: Wichtig ist uns, dass die Teilnehmer spüren, dass diese Inhalte in ihrem täglichen Leben ankommen. Dass es nicht nur irgendeine Fortbildung ist, die ins Hirn geht und sich im Alltag wieder verliert, sondern dass es tatsächlich möglich ist, all das in der Praxis umzusetzen. Deswegen werden wir die Kurse auch mit Begleittagen versehen. Sprich: Die Teilnehmer werden von den Trainern stundenweise ein- oder zweimal im Alltag besucht, um gemeinsam auf bestimmte Problemstellungen zu schauen.

„Wichtig ist uns, dass die Teilnehmer spüren, dass diese Inhalte in ihrem täglichen Leben ankommen. Dass es nicht nur irgendeine Fortbildung ist, die ins Hirn geht und sich im Alltag wieder verliert, sondern dass es tatsächlich möglich ist, all das in der Praxis umzusetzen.“ Heimleiter Stefan Hupf

So sollen zusätzliche Anreize gesetzt, weitere Hilfestellungen gegeben und Fragen beantwortet werden. Das ist ein gigantisches Projekt, eine Herkulesaufgabe! Aber ich freue mich total darauf, dass wir das umsetzen können.
 

Stichwort: Das ist Kinaesthetics

  • Bewegungskompetenz: Kinaesthetics ist (Quelle: Kinaesthetics Deutschland) die Bezeichnung für die Erfahrungswissenschaft, die sich mit Bewegungskompetenz als einer der zentralen Grundlagen des menschlichen Lebens auseinandersetzt.
     
  • Achtsamkeit: Der Begriff könne mit „Kunst/Wissenschaft der Bewegungswahrnehmung“ übersetzt werden. Kinaesthetics basiere auf der Erfahrung mit der eigenen Bewegung. Die Lehre führe zu einer erhöhten Achtsamkeit für die Unterschiede der eigenen Bewegung in allen alltäglichen Aktivitäten.
     
  • Qualität: Die Auseinandersetzung mit dem Thema könne Menschen jeden Alters persönlich oder beruflich weiterbringen. Kinaesthetics werde in Berufen, in denen Körperkontakt selbstverständlich sei, besonders geschätzt, weil es die Qualität der eigenen Bewegung sowie der Pflege, Betreuung oder Therapie – das heißt die eigene Gesundheit und die des anderen – fördere.
     
  • Netzwerk: Kinaesthetics gilt heute als ein europäisches, dezentral geführtes Bildungsnetzwerk, das verschiedene Länderorganisationen umfasst und an die 1000 Trainer in seinen Reihen hat.